Der Verlust der Saatgut-Vielfalt muss gestoppt werden
25 May 2012 | German
Brüssel, 24. Mai 2012 – Eine breite Koalition aus 240 zivilgesellschaftlichen Organisationen (1) aus 40 EU-Ländern, der EFTA und Kandidatenländern und von insgesamt 6 Kontinenten fordert heute die politischen EntscheidungsträgerInnen der Europäischen Union dazu auf, dem alarmierenden Verlust an landwirtschaftlicher Vielfalt in Europa Einhalt zu gebieten.
In einem offenen Brief an die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes und sieben Mitglieder der EU Kommission weisen die NGOs darauf hin, dass die derzeit laufende Revision des Europäischen Saatgutverkehrsrechts(2) eine einmalige Chance bietet, endlich den bereits überfälligen Schritt in Richtung einer nachhaltigen Europäischen Saatgutpolitik zu gehen. Diese müsse die landwirtschaftliche Vielfalt sowie die Umwelt schützen und fördern, die Nachfrage der Konsumentinnen und Konsumenten in Europa nach mehr Sorten-Vielfalt am Lebensmittelmarkt berücksichtigen, und die Verfügbarkeit gesunder Lebensmittel auch in Zukunft gewährleisten. Die Revision müsse auch dem Bedarf nach lokal angepasstem Saatgut seitens kleiner Bauernhöfe und Gärten in Europa Rechnung tragen.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schätzt den Verlust an Kulturpflanzen-Vielfalt seit dem Jahr 1900 auf über 75%. Ab diesem Zeitpunkt begannen sich Märkte für Saatgut zu entwickeln. Die Saatgut-Gesetzgebung der Europäischen Union – sie zählt zu den restriktivsten weltweit – wurde in den 1960er Jahren geschaffen und hatte großen Anteil am Prozess der Sortenverarmung. Denn das EU Saatgutrecht schließt jegliches Saatgut vom Markt aus, welches nicht bestimmte Kriterien erfüllt, die überwiegend für die Saatgutproduktion im industriellen Maßstab und die Bedürfnisse der industrialisierten Landwirtschaft entwickelt wurden. In den letzten 3 Jahrzehnten durchlief der Saatgutsektor weltweit einen massiven Konzentrationsprozess: Heute kontrollieren nur mehr 10 multinationale Unternehmen 74% des globalen Saatgutmarktes.
“Die Erhaltung der Saatgutvielfalt ist – angesichts akuter Umweltbedrohungen – essentiell für die Stabilität der Agrarökosysteme, zusätzlich zur grundsätzlichen Notwendigkeit, die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) umweltfreundlicher zu gestalten,.” ist Faustine Defossez, Referentin für Landwirtschaft und Bioenergie des Europäischen Umweltbüros (EEB), überzeugt. “Die Europäische Landwirtschaft ist derzeit mit großen Herausforderungen konfrontiert: Verlust der Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität und Gefährdung der Wasserqualität. Ohne ernsthafte Anstrengungen wird es nicht gelingen, diese Probleme zu lösen. Eine grundlegende Überarbeitung der Saatgutgesetzgebung wäre hier ein wichtiger Beitrag. “, so Defossez.
Daß die agrikulturelle Biodiversität eine Grundlage der Nahrungsmittelproduktion und die wesentliche Quelle für die Tier- und Pflanzenzüchtung darstellt, belegt auch der Bericht des Weltagrarrats IAASTD aus dem Jahr 2009(3). Antje Kölling von der Brüsseler Vertretung der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen (IFOAM) zur Bedeutung von Pflanzensorten aus ökologischer Züchtung sowie lokal angepassten Sorten: „Der Einsatz von Sorten mit größerer genetischer Basis ist unbedingt notwendig, um die Anpassungsfähigkeit des gesamten Ernährungssystems an die sich verändernden Umweltbedingungen sicherzustellen. Es ist dies eine Voraussetzung für die Sicherung unserer Ernährung!“ Wird in Zukunft eine größere Sortenvielfalt verfügbar, kann dies helfen, die landwirtschaftlichen Ökosystemleistungen zu verbessern und den Verbrauch von Wasser, Chemikalien und Pestiziden zu reduzieren. “Um die derzeitige Krise unseres Ernährungssystems zu bewältigen, braucht auch die Europäische Saatgutgesetzgebung eine ökologische Erneuerung. Die Vermarktung von Pflanzensorten mit einer breiteren genetischen Basis muss ermöglicht werden”, erläutert Kölling.
Saatgut-Erhaltungsorganisationen in ganz Europa fühlen sich durch die Europäische Saatgutgesetzgebung in ihrer Existenz bedroht. “Die privaten Gärten in Europa spielen nicht nur in der Versorgung der Bevölkerung mit frischen, gesunden Lebenmitteln eine große Rolle. Die Gärten sind auch Refugien für eine Vielfalt an Obst- und Gemüsesorten, die heute vom Aussterben bedroht ist,” zeigt sich Christian Schrefel, Obmann der ARCHE NOAH, einer der größten Erhaltungsorganisationen in Mitteleuropa, besorgt: “Die letzten privaten Freiräume wie der Saatgut-Tausch dürfen nicht im Namen von Produktivität und Standardisierung geopfert werden. Wenn diese Aktivitäten illegalisiert werden, müssen wir mit einem weiteren erdrutschartigen Verlust an europäischer Saatgutvielfalt rechnen, und geraten noch weiter in Abhängigkeiten von der Saatgutindustrie.”
“Saatgut ist wesentlich mehr als nur eine profitable Massenware. Saatgut hat auch ethischen Wert, und ist eng mit unserer Kultur und unseren Ernährungsgewohnheiten verbunden”. Piero Sardo, Präsident der Internationalen Slow Food Stiftung für Biodiversität, weist darauf hin, dass das Verschwinden von lokalem Saatgut mit dem Verlust an kleinbäuerlichen Betrieben einhergeht und auch einen Verlust lokaler Esskulturen und traditionellen Wissens nach sich zieht. “Wenn die Saatgut-Vielfalt erhöht wird, fördert dies auch eine gesunde Vielfalt an Lebensmitteln und den Reichtum des Geschmacks”, so Sardo.
Guy Kastler von der Europäischen Koordination Via Campesina, welche die kleinbäuerlichen Rechte verteidigt, betont, dass europäische Bauern und Bäuerinnen jahrhundertelang Bedeutendes für die Erhaltung und Weiterentwicklung der agrikulturellen Vielfalt geleistet haben, leisten und in Zukunft leisten werden. “Die Revision des Europäischen Saatgutverkehrsrechts muss daher die bäuerlichen Rechte, eigenes Saatgut zu gewinnen, zu nutzen, zu tauschen, zu verkaufen und zu bewahren, auch in Europa anerkennen und sicherstellen.”
Die Politik ist nun aufgefordert zu handeln und die Forderungen von europäischen Bürgerinnen und Bürgern, Bäuerinnen und Bauern nach einer überfälligen Revision des Saatgutverkehrsrechts zu erfüllen, die die Verfügbarkeit ökologischen Saatgutes und einer geschmackvollen, bunten Sortenvielfalt in Zukunft sicherstellen soll.
Redaktionshinweis:
Der offene Brief ist online auf www.SeedForAll.org abrufbar.
(1) Eine Liste aller unterzeichnenden Organisationen finden Sie auf www.SeedForAll.org
(2) http://ec.europa.eu/food/plant/propagation/evaluation/docs/15042011_options_analysis_paper_en.pdf
(3) International assessment of agricultural knowledge, science and technology for development (IAASTD): global report / edited by Beverly D. McIntyre . . . [et al.].
Arche Noah: Seit über 20 Jahren und mit tausenden gefährdeten Sorten in ihrer Sammlung arbeitet ARCHE NOAH and ihre 9.000 Mitglieder an der “Erhaltung durch Nutzung” gefährdeter Gemüse-, Obst- und Getreidesorten. Die Organisation arbeitet seit langem erfolgreich an der Wiederbelebung traditioneller und seltener Sorten in den Gärten und auf den Märkten, wie auch zahlreiche weitere Erhaltungsorganisationen in ganz Europa, viele von ihnen Teil des Netzwerks “Let´s Liberate Diversity”
Europäisches Umweltbüro (EEB): Gegründet 1974, ist das EEB heute die europaweit größteka Vereinigung von Umweltorganisationen mit mehr als 140 Mitgliedsorganisationen. Das EEB nimmt somit die Interessen von 15 Millionen Europäischer Bürgerinnen und Bürger wahr, und fungiert als “Augen und Ohren” der Mitglieder gegenüber den Institutionen der Europäischen Union.
Die Europäische Koordination Via Campesina (ECVC) vereint 27 Gewerkschaften, Organisationen und Bewegungen der kleinbäuerlichen Betriebe und LandarbeiterInnen in 17 Europäischen Ländern. ECVC tritt für Ernährungssouveränität als Bezugsrahmen für Landwirtschafts- und Ernährungs-Politiken ein.
Die IFOAM EU Gruppe arbeitet innerhalb der Internationalen Vereinigung der ökologischen Landbaubewegungen IFOAM auf Europäischer Ebene und vereint über 300 Organisationen, Assoziationen und Unternehmen aus allen 27 EU Ländern sowie EFTA Ländern. Das Ziel der IFOAM ist die weltweite Einführung ökologischer, sozialer und ökonomisch vernünftiger Systeme, die auf den Prinzipien der ökologischen Landwirtschaft beruhen.
Die Slow Food Stiftung für Biodiversität koordiniert als non-profit Organisation weltweit zahllose Projekte (Presidia, Earth Markets, vegetable gardens und andere), um die “Terra Madre Gemeinschaften” zu unterstützen, indem sie technische und finanzielle Unterstützung bereitstellt. Die Stiftung ist in über 50 Ländern aktiv und mit über 10.000 kleinbäuerlichen ProduzentInnen verbunden, um eine umweltfreundliche und kulturell nachhaltige Landwirtschaft zu fördern.
Kontakt:
Pierre Sultana, Arche Noah
Rue de Londres, 17 – 1050 Bruxelles
Tel: +32 2 347 09 11 or +32 493 11 89 72
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