Unkonventionelle Stimmen in Brüssel

24 Okt 2017

 width=Die Slow Food-Philosophie von guten, sauberen und fairen Lebensmitteln in die Brüsseler „Bubble” zu bringen, ist wahrlich kein Kinderspiel. Die „Bubble” ist ein ganz eigenes Universum in Brüssel: dazu gehören die Europäischen Institutionen und alle damit verbundenen Organisationen, die Lobbyarbeit betreiben.

In diesem Universum finden jedes Jahr Hunderte von Konferenzen statt, aber die Referenten und die Teilnehmer sind oftmals die Gleichen. Die „Bubble“ ist leider auch isoliert von der Stadt Brüssel.

Aus diesem Grund war es uns vom Slow Food-Büro in Brüssel bei der Planung unserer Konferenz besonders wichtig, diese „Bubble“ aufzubrechen: es sollten ganz neue Referenten zu Wort kommen und die Konferenz sollte in einem symbolischen Stadtteil stattfinden.

So waren denn am 18. Oktober sechs Aktivisten aus dem Slow Food-Netzwerk Hauptredner bei unserer Konferenz „Zu einer Gemeinsamen EU-Ernährungspolitik – Unkonventionelle Stimmen reißen Mauern ein”, zusammen mit Carlo Petrini und Olivier De Schutter (ehemaliger UN-Sonderbeauftragter für das Recht auf Nahrung und Co-Präsident der Internationalen Fachjury für nachhaltige Nahrungsmittelsysteme IPES). Sie stellten die wichtigsten Herausforderungen des Ernährungssystems vor und skizzierten Lösungsansätze und Schlüsselelemente einer Gemeinsamen EU-Ernährungspolitik.

Jean Pierre de Leener, seines Zeichens Bio-Bauer aus dem Umland von Brüssel, ehemaliges Kabinettsmitglied des Flämischen Landwirtschafts- und Umweltministers und aktives Mitglied bei Slow Food Metropolitan Brüssel, kam zuerst zu Wort. Er stellte dem Publikum den Veranstaltungsort vor, das „Atelier des Tanneurs”. Das Gebäude im ehemals ärmsten Teil der Stadt beherbergt eine Markthalle, in der täglich frische Bio-Produkte verkauft werden. Der Großteil davon stammt aus Belgien, Produkte wie Zitronen, Olivenöl und ähnliche hingegen von einer Kooperative aus Sizilien, die alte Sorten anbaut und sich durch die Mitwirkung an Initiativen wie „Addiopizzo” gegen die Zahlung von Schutzgeldern an die Mafia und für lokale Gerechtigkeit einsetzt.

Die Bauern verkaufen ihre Erzeugnisse direkt an die Kunden. Durch die verkürzte Lieferkette entfällt die Spanne von 25%, die die Händler normalerweise aufschlagen. Dadurch erhalten die Bauern eine faire Vergütung und auch die Kunden zahlen einen fairen Preis. Das Modell ist ein voller Erfolg: Familien aus allen Schichten stehen beim „Marché des Tanneurs” Schlange, um dort ihre Lebensmittel einzukaufen. Für Jean Pierre de Leener ist der Direktverkauf und die enge Einbeziehung der Bürger der Schlüssel für ein nachhaltiges Ernährungssystem und ein grundlegendes Element von Ernährungspolitik.

Linda Bedouet, eine junge Bäuerin, die nach den Prinzipien von Agrarökologie und Permakultur arbeitet und Koordinatorin des Slow Food Youth Network in Frankreich und der Organisation „Fermes d’Avenir” ist, betonte in ihrem Beitrag die Wichtigkeit, alle Landwirte bei der Umstellung auf agroökologischen Landbau zu unterstützen, und zwar sowohl in technischer als auch gesellschaftlicher Hinsicht. Ihr kommt bei dieser Mission sicher eine wichtige Rolle zu: von ihrem Buch „Créer sa micro-ferme: permaculture et agroecologie” wurden 25 Tausend Exemplare verkauft und sie fördert die Umstellung im Rahmen des Vereins „Fermes d’Avenir”, sowohl durch Weiterbildungen als auch durch die landesweite Unterstützung von agroökologisch arbeitenden Bauern. Außerdem beharrte sie darauf, wie wichtig es ist, den externen Faktoren der Landwirtschaft Rechnung zu tragen: „in Frankreich stellen konventionell arbeitende Landwirte Erzeugnisse im Wert von 60 Millionen her, aber die Dekontamination der Gewässer, die sie mit ihrer Tätigkeit verschmutzen, kostet im Gegenzug 60 Millionen. Wir müssen den richtigen Preis für Lebensmittel bezahlen.”

Johan Dal, Forscher der Universität Aalborg und Koordinator von Slow Food Kopenhagen-Nordseeland, unterstreicht eine der wichtigsten Herausforderungen der heutigen Zeit: „In den ländlichen Gebieten gibt es keine Infrastrukturen mehr, um die lokale Wirtschaft und die Märkte zu unterstützen. Schulen schließen und es besteht keine Möglichkeiten mehr, einen Job zu finden. Deshalb wandern die Leute in städtische Ballungsräume ab.” Die Lösung? Das Ernährungssystem in seiner ganzen Komplexität angehen. „Es reicht nicht aus, einen einzelnen Aspekt wie z.B. Lebensmittelverschwendung zu bekämpfen, wenn du nicht das gesamte Herstellungssystem änderst.”

Eine Komplexität, die auch die Fischer betrifft: „Kleine Küstenfischer sind komplett abhängig davon, was wir in unseren Gewässern finden. Wir können nicht auswählen, was wir anbauen, wir fischen das, was wir in unserer Umgebung vorfinden” so Barbara Geertsema, Fischerin und Umweltschützerin sowie Koordinatorin der Organisation Goede Vissers und des Slow Food Presidios der Traditionellen Fischer des holländischen Wattenmeers. „Ich habe gelernt, dass wir das ernten, was die vorherigen Generationen gesät haben und für die nächsten Generationen produzieren.”

„Wiederzuentdecken, was ein Fisch ist, wie er gefischt wird; was eine Gemüsesorte ist, wie und von wem sie angebaut wird”, ist die grundlegende Aufgabe von Köchen auf der ganzen Welt laut Xavier Hamon, Koch und Inhaber des Restaurants Le Comptoir du Théâtre, sowie Koordinator der Slow Food Chef Alliance in Frankreich. „Zu viele von uns Köchen haben die Bodenhaftung und den Bezug zu unseren Wurzeln verloren . Wir müssen unsere Rolle im Ernährungssystem neu definieren.”

„Da sich Faktoren wie die Jahreszeit, das Wetter und die Tiere ständig verändern, hat Flexibilität in meiner täglichen Arbeit oberste Priorität. Aber ich habe mit der Bürokratie zu kämpfen.” Für Robert Paget, Hersteller von Rohmilchkäse und Koordinator von Slow Food Kamptal in Österreich sollte eine Gemeinsame EU-Ernährungspolitik die Besonderheiten von Kleinbauern berücksichtigen und dementsprechend die bürokratischen Belastung für sie reduzieren.

Olivier de Schutter und Carlo Petrini griffen in ihren Präsentationen die Themen der fairen Preise, der Urbanisierung, der sich verändernden Umwelt und der Vereinheitlichung der Vorschriften in Europa auf, die sie dieses Jahr bereits in anderen Artikeln angesprochen hatten. Sie forderten eine kohärente Gemeinsame EU-Ernährungspolitik, die branchenübergreifend und regional verankert ist, vereinbar mit den Geschehnissen auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene und unter Einbeziehung aller Akteure entwickelt wird.

„Die Regierungen müssen der Ernährungsfrage politisches Gewicht einräumen und ein Ernährungsministerium schaffen. Lebensmittel sind nicht einfach das Anhängsel einer Produktionstätigkeit, sie haben grundlegende Auswirkungen auf unsere Wirtschaft, Gesundheit, Kultur und Bildung,” erklärte Petrini.

 

 

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