Turin, Mailand, London, Grenoble, Ostenda und Rom: Bei Terra Madre Salone del Gusto teilen Städte ihre Erfahrungen zur Ernährungspolitik
23 Sep 2022
Städte — in denen die Hälfte der Weltbevölkerung lebt und 70% der weltweit produzierten Lebensmittel konsumiert werden — können ihre Lebensmittelsysteme widerstandsfähiger und nachhaltiger machen. Um herauszufinden wie, gab es bei der Großveranstaltung Terra Madre Salone del Gusto, die dieses Jahr vom 22. bis zum 26. September im Turiner Parco Dora stattfindet, am 22. September im Rahmen der Konferenz „Die Stadt ernähren” zwei konsekutive Podiumsdiskussionen, bei denen Projektteilnehmer und andere Experten für städtische Ernährungspolitik über dieses Thema diskutierten.
Die Delegierten und Experten unterstrichen, wie wichtig es ist, sich zu vernetzen und zusammenzuarbeiten, um die städtischen Lebensmittelsysteme widerstandsfähiger, nachhaltiger und generell hochwertiger zu machen.
„Turin war die erste italienische Stadt, die das Recht auf Nahrung in ihr Statut aufgenommen hat, und zwar nicht auf irgendeine Nahrung, sondern auf ausreichende, qualitativ hochwertige, nahrhafte, gesunde sowie kulturell und religiös akzeptable Nahrung”, erinnerte Michela Favaro, stellvertretende Bürgermeisterin von Turin. Die stellvertretende Bürgermeisterin von Mailand, Anna Scavuzzo, betonte die Bedeutung eines integrierten Ansatzes zur Bewältigung komplexer Situationen und die Wichtigkeit von Bündnissen. Sie hob hervor, dass „ein Ansatz per se integriert ist, sonst ist es kein Ansatz, sondern nur ein Versuch“, wie das Projekt Food Trails und sein Dachprojekt, der Mailänder Pakt für urbane Ernährungspolitik beispielhaft zeigt. Dabei handelt es sich um ein internationales Abkommen über urbane Ernährungspolitik, das von 243 Städten auf der ganzen Welt unterzeichnet wurde. Es wurde nach der Expo 2015 lanciert und versammelt zahlreiche Städte auf der ganzen Welt, um gute Praktiken zu teilen, für die es vom Bündnis auch eine Auszeichnung gibt. Darüber hinaus wurde eine Bibliothek mit neuen Lebensmittelstrategien aus der ganzen Welt zusammengestellt und innovative, von der EU finanzierte Projekte durchgeführt, wobei insgesamt 31 Millionen Euro in 16 Projekte investiert wurden.
Die drei Elemente, auf die sich die Städte konzentrieren sollten, sind: Öffentliche Beschaffung, bspw. in Schulen und Krankenhäusern, städtische Lebensmittelmärkte sowie Lebensmittelverschwendung, so Corinna Hawkes, Professorin und Leiterin des Zentrums für Ernährungspolitik der Universität London. „Wenn jede Stadt diese drei Dinge optimieren könnte, wäre das eine große Veränderung“, sagte sie. Das hieße „gesundes Essen in Schulen durch öffentliches Beschaffungswesen; sicherstellen, dass es auf Lebensmittelmärkten eine Vielzahl gesunder, nahrhafter Lebensmittel gibt und die Erzeuger unterstützt werden; sowie die Bekämpfung von Lebensmittelverschwendung, was sich auch positiv auf die Umwelt, Ernährungsunsicherheit und den Klimawandel auswirkt. Wenn man sich grundsätzlich auf die Bürger konzentriert, erhält man einen auf die Endverbraucher ausgerichteten Ansatz für das Lebensmittelsystem, der auch die Bedürfnisse aller anderen Akteure der Wertschöpfungskette berücksichtigt.”
Laut Marta Messa, Generalsekretärin von Slow Food, müssen „die Städte und die städtische Politik eine zentrale Rolle bei der Erneuerung unseres Lebensmittelsystems einnehmen. Wir können nicht erwarten, dass Einzelpersonen das Lebensmittelsystem ändern. Dazu müssen wir alle zusammenarbeiten.“
Slow Food ist einer der Hauptpartner von Food Trails, einem vierjährigen aus EU-Mitteln finanzierten Projekt, das im Oktober 2020 gestartet wurde und darauf abzielt, in den Städten eine integrierte Ernährungspolitik zu entwickeln. Mittel dazu sind die „Living Labs”, also lebendige Laboratorien, die die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Verwaltungen und Bürgern anregen. Dadurch soll eine Lebensmittelpolitik entwickelt werden, die die Gemeinschaft stärkt, Verschwendung und Abfälle reduziert, die Nachhaltigkeit erhöht und eine gesunde und sichere Ernährung der Menschen gewährleistet.
Schulmensen sind ein wichtiges Element der Ernährungspolitik und der Schlüssel für einen echten Wandel.
Ein Beispiel für diesen Ansatz sind die Erfahrungen der Großstadtverwaltung Grenoble-Alpes Métropole, die 49 Gemeinden im Südosten Frankreichs vereint. „Lebensmittel liegen nicht in unserer Zuständigkeit“, erklärte Christine Oriol, Beraterin für landwirtschaftliche Entwicklung in Grenoble. „Wir haben keine gesetzliche Grundlage für Lebensmittelpolitik. Aber wir können uns mit Energieversorgung, Wasserversorgung, Abfall, sozialem Zusammenhalt und Finanzen befassen, und alle diese Abteilungen haben jetzt Programme, die auf die Lebensmittelpolitik ausgerichtet sind. Wir haben also eine integrierte Lebensmittelpolitik.“ Durch ihre Zuständigkeit für Abfall und Landwirtschaft konnten sie in der Stadtverwaltung die Schulmensen beeinflussen, indem sie eine qualitativ hochwertige Beschaffung vorgaben, Lebensmittelabfälle reduzierten und Einwegplastik durch wiederverwendbare Behälter ersetzten.
Die belgische Stadt Ostend hat einen Workshop zur Beschleunigung des Wandels im Lebensmittelsystem eingeführt, bei dem neun Städte zusammenarbeiten. Einer der Schwerpunkte des Projekts war ein landwirtschaftlicher Park in der Stadt. „Er ist nur 35 Hektar groß und wird nicht die ganze Stadt ernähren, aber es ist beeindruckend zu sehen, wie viele Initiativen von diesem Lebensmittelpark ausgegangen sind. Solidarische Landwirtschaft, ein Hofshop, ein Bauernmarkt, Bildungsaktivitäten, Zusammenarbeit mit Schulen und Co-Housing-Projekte. Vor kurzem erwarb ein Altenheim 50 Anteile der solidarischen Landwirtschaftsinitiative, um die Bewohner des nur 1 km entfernten Heims mit lokalen und frischen Bio-Lebensmitteln zu versorgen. Statt alles in Plastiktüten einzukaufen, bekommen Sie ihre Lebensmittel jetzt direkt vom Feld voller Erde. Das bedeutet mehr Arbeit, aber der hervorragende Geschmack macht sie einfach glücklich“, so Kathy Belpaeme, Leiterin des Lebensmittelbereichs.
Die Beteiligung der Öffentlichkeit ist der Schlüssel zu einer Veränderung der Ernährungspolitik: „Die Stadt Rom hat 200 Gemeinschaftsnutzgärten“, erklärte Elisabetta Luzzi von der städtischen Agentur Risorse per Roma, „die wichtige Impulsgeber der Partizipation sind. Sie sind wie neue Plätze — soziale Treffpunkte, perfekt geeignet zur Inklusion behinderter und schwächerer Menschen und zur Integration von Flüchtlingen.” Die beste Ernährungspolitik ist letztlich die, die von den Bürgern selbst kommt“, sagte sie. „Ein Living Lab, also ein lebendiges Labor von 400 Menschen aus unterschiedlichen Organisationen, die über 5.000 Einzelpersonen repräsentieren, kommt seit Februar zusammen und erarbeitet Regelungen für den Lebensmittelrat der Stadt, die bis Ende des Jahres in ein Gesetz umgewandelt werden sollen.”
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