Käse ist Leben, Käse ist Gefühl – Argumente für natürlichen Käse

23 Aug. 2019

Bei der Cheese 2019 geht es nicht nur um natürlichen Käse, sondern auch um natürliche Wurstwaren, Brot und Wein, bei deren Herstellung weder ausgewählte Enzyme, noch Nitrite, Nitrate oder Zusatzstoffe zum Einsatz kommen.

Das Konzept ist etwas komplex und nicht unmittelbar verständlich, deshalb versuchen wir – ganz im Stile von Slow Food – es auf ganz unterschiedliche Arten zu erklären: Verschiedene Konferenzen widmen sich unter dem Titel „Natürlich ist möglich ” dem Thema – sowohl innerhalb des speziellen Fermier-Bereichs, in dem Kleinbetriebe vorgestellt werden, die Natürlichkeit als ihr Markenzeichen gewählt haben, als auch bei diversen Geschmacksworkshops.

SCHULUNGEN FÜR ERZEUGERINNEN UND ERZEUGER

Das Thema der Natürlichkeit steht auch im Zentrum des Schulungsangebots für Erzeugerinnen und Erzeuger, das einen Tag vor Beginn der Veranstaltung, nämlich am 19. September, organisiert wird. Geleitet werden die Schulungen von Giampaolo Gaiarin, Technologe und Dozent am Agrarischen Institut San Michele (Provinz Trento), einer der Hauptakteure der Konferenz Natürlicher Käse: Weiden, Rohmilch, natürliche Fermente am Samstag, den 21. September um 11 Uhr.

KENNTNISSE WEITERGEBEN, LEIDENSCHAFT VERMITTELN

Das ist unser Ausgangspunkt um zu  erfahren, wer Giampaolo Gaiarin ist und was er macht.

Vor meiner Tätigkeit als Dozent war ich beim Konsortium Trentingrana für die Qualitätskontrolle verantwortlich. Durch meine Entscheidung für die Lehrtätigkeit habe ich mich ganz neu orientiert und mir gefällt diese Erfahrung sehr. Meine Kenntnisse über Milch und Käse habe ich mir teils durchs Studium angeeignet, aber den Großteil verdanke ich den Erzeugerinnen und Erzeugern, den weiterverarbeitenden Betrieben, den Käsern und Viehzüchtern. Für mich waren das nicht einfach Informationen, sie wurden ein Wissensschatz, der jetzt zu meinem Leben gehört.

Den jungen Leuten diese Kenntnisse zu vermitteln, ist eine wunderbare Herausforderung für mich. Du musst einerseits präzise, technisch und wissenschaftlich sein, andererseits musst du Leidenschaft vermitteln – das ist genauso wichtig. Es geht nicht darum, Kenntnisse als isolierte Begriffe und Informationen zu vermitteln – dafür würde eine Internetrecherche ausreichen –, sondern zu verstehen, wie das alles mit dem Verarbeitungsprozess zusammenhängt.

ROHMILCH

Warum sollten wir uns für Rohmilchkäse entscheiden?

Wenn wir uns mit Rohmilchkäse nähren – also nicht einfach Nahrung zuführen, sondern unserem Körper etwas Gutes tun –, ist das in unserer heutigen hochtechnologischen Welt mit ihren stark veränderten Lebensmitteln etwas ganz Tolles. Die Entscheidung für Rohmilch bedeutet, dass wir das, was uns die Natur – die Ziege, das Schaf, die Kuh oder der Büffel – in der Milch zur Verfügung stellt, nutzen können. Sich nähren bedeutet, sicherzustellen, dass unser Körper einen Nutzen daraus zieht, was wir ihm zuführen. Das unterscheidet sich von der reinen Nahrungszufuhr.

Die Ernährung der Tiere wirkt sich auf die Milch und in Folge auch auf den Käse aus, wenn wir Rohmilch verwenden und eine Technologie, die den Wert der Milch respektiert. Auch ob das Tier zu Beginn der Almsaison oder drei Wochen später auf einer bestimmten Weide gegrast hat – all das schlägt sich im Rohmilchkäse nieder, in Form von Geschmack und Aroma.

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Die Formen zerbrachen. Ph. Alberto Peroli.

GUTE BAKTERIEN, SCHLECHTE BAKTERIEN

Oft wird Rohmilchkäse jedoch als gefährlich abgestempelt…

Ein weiterer Aspekt, der für Rohmilch spricht, ist unsichtbar: die Bakterien. Jeder Stall hat seine eigenen: gute, schlechte, der Käseherstellung zuträgliche oder nicht zuträgliche. Die industrielle Pasteurisierung beseitigt diese Unterschiede. Wir fordern von den Personen, die Rohmilch verarbeiten, diese respektvoll zu behandeln, sie gut herzustellen, richtig zu lagern, nicht mit dreckigen Gerätschaften zu verschmutzen und gut darauf zu achten.

Bei diesem Vorgang gibt es Aroma- und Geruchsmerkmale und nützliche Bakterien, die dafür sorgen, dass der Käse vielseitiger und in aromatischer Hinsicht raffinierter wird. Ob er mir schmeckt oder nicht, ist eine andere Frage, aber ich möchte ein Produkt wählen können, das mir diese einzigartigen Gefühle und Sinneswahrnehmungen schenkt. Ein Käse aus pasteurisierter Milch neigt, selbst wenn er gut produziert ist, zu konstanter geschmacklicher Einheitlichkeit. Aber mir gefällt es eben, einen Käse zu essen und den Unterschied zu schmecken, ob er Anfang oder Ende Juli auf dieser oder jener Alm hergestellt wurde.

NATÜRLICH VS. INDUSTRIELL

Ist es richtig, Käse als natürlich zu definieren, der ohne Einsatz von ausgewählten industriellen Starterkulturen hergestellt wurde? Was ist der Unterschied zwischen industriellen und natürlichen Startern?

Wenn ich eine Packung industrieller Enzyme verwende, verringere ich das Geruchs- und Aromaprofil des Käses. Industrielle Enzyme enthalten ein, maximal zwei Arten von Bakterien. Die ausgewählten Hefen schaffen genau das Käseprofil, das ich erwarte. Wenn ich hingegen gute Bakterien nehme, die ich im Stall habe – oder in den Ställen, wenn ich eine Käserei habe – und sie bei der Verarbeitung einsetze, aktiviere ich einen natürlichen Prozess, bei dem die Bakterien einen ganz kurzen Weg zurücklegen: vom Stall zur Käserei.

Bei einem industriellen Enzym, das beispielsweise in Australien produziert wurde, legen die Bakterien einen viel längeren Weg zurück. Sie haben eine ganz andere Umweltauswirkung. Betrachtet man die Qualität, so finden sich in Rohmilch viele verschiedene Bakterien, und alle tragen zu dem speziellen Geruch und Aroma des Käses bei. In einem natürlichen Prozess gibt es positive Aspekte, wenn die Milch gut behandelt wurde und negative, wenn sie schlecht behandelt wurde.

In einem industriellen Prozess kann man Milch produzieren, wie man möchte, innerhalb bestimmter Gesetzesvorgaben natürlich. Wenn sie nicht gut produziert wird, beseitigt die Pasteurisierung alle negativen Eigenschaften. Wenn ich hingegen Rohmilch verwende, kommen sowohl die guten als auch die schlechten Eigenschaften stärker zur Geltung und man erhält unterschiedliche Ergebnisse. Käse ist natürlich, wenn er die Natur widerspiegelt. In der Natur gibt es nicht immer nur Sonne, oder Wolken. Die Natur hat ihren Lauf, ihren Lebenszyklus und ihre positiven oder negativen Überraschungen. Einen natürlichen Rohmilchkäse herzustellen, gibt einem die Möglichkeit, jeden Tag einen einzigartigen Sonnenauf- oder Sonnenuntergang zu genießen.

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Der Caciofiore aus dem römischen Umland, Slow Food Presidio. Foto: Alberto Peroli.

RASSEN

Was ist die beste Milchviehrasse?

Die beste Rasse ist diejenige, die sich am besten an ihre Umwelt anpasst: an den jeweiligen Stall, den jeweiligen Viehzüchter, die Höhenlage oder Weide oder das jeweilige Futter. Wenn wir ein Holstein-Rind aus der Po-Ebene nehmen und es auf eine Höhe von 2000 Metern bringen, führt das zu großen Problemen für diese Rasse, die kurze Distanzen gewohnt ist und in den Bergen auf einmal mehrere Kilometer zurücklegen muss. Wenn ich hingegen ein Tiroler Grauvieh nehme, das die Berge und steinigen Boden gewohnt ist, und es in die Po-Ebene  bringe, führt das auch zu großen Problemen.

Wir müssen die Rassen erhalten, die an das jeweilige Gebiet und die jeweilige Umgebung angepasst ist. Wir müssen die mit der Rasse und der Weide verbundene Biodiversität bewahren; und auch die Biodiversität, die mit dem Wissensschatz des Käsers und der speziellen Käsesorte verbunden ist, die an einem bestimmten Ort hergestellt wird.

Die Augen von Giampaolo glänzen, wenn er von seinen Erfahrungen spricht. Seine abschließenden Worte machen deutlich, warum: «Käse ist Leben, Käse ist Gefühl. Wenn wir Milch pasteurisieren und industrielle Fermente verwenden, verlieren wir all das. Bewahren wir diese alternative und natürliche Art Käse herzustellen, die Rücksicht auf die Umwelt nimmt und uns echte Gefühle beschert.»

von Silvia Ceriani, [email protected]

Das Videointerview mit Giampaolo Gaiarin, aus dem diese Auszüge stammen, wurde 2017 in Zusammenhang mit dem Projekt Kornkammern der Erinnerung geführt. Das vollständige Interview ist unter folgendem Link zu finden: http://www.granaidellamemoria.it/index.php/it/archivi/presidi-slow-food/giampaolo-gaiarin

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Rendena-Vieh, Slow Food Presidio. Foto: Manuel Cosi.

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