Gemeinsame Agrarpolitik und Agrarökologie: Zivilgesellschaft fordert die Einhaltung der Rechte der Landarbeiter!
19 Feb 2021
Nun schließen sich Organisationen der Zivilgesellschaft in ganz Europa zusammen, um Rechte und soziale Gerechtigkeit für Landarbeiter zu fordern.
Mindestens zehn Millionen Menschen arbeiten jedes Jahr in der europäischen Landwirtschaft, hauptsächlich als Saisonarbeiter und mit Tagesverträgen, und viele werden Opfer einer verbreiteten Ausbeutung. Dennoch bleibt diese ungerechte und unmenschliche Situation zumeist verborgen. Nun schließen sich Organisationen der Zivilgesellschaft in ganz Europa zusammen, um Rechte und soziale Gerechtigkeit für Landarbeiter zu fordern. Viele von ihnen, so auch Slow Food, sind überzeugt, dass die Agrarökologie der richtige Ansatz für die Zukunft der europäischen Landwirtschaft ist, denn sie achtet die Umwelt, die Tiere und die Menschen, die Lebensmittel erzeugen.
Heute wurde ein offener Brief, unterzeichnet von Slow Food Europe und über 300 anderen Organisationen und Einzelpersonen aus ganz Europa, an die wichtigsten europäischen und nationalen Entscheidungsträger für die Agrarpolitik und soziale Rechte geschickt. Darin wird die Notwendigkeit unterstrichen, die „soziale Konditionalität“ in das abschließende Dossier der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) aufzunehmen.
Der Begriff Soziale Konditionalität bedeutet, dass Förderungen für die Landwirtschaft, in diesem Fall Zahlungen, die im Rahmen der GAP ausgegeben werden, an die Beachtung der sozialen Rechte der Landarbeiter geknüpft werden: gerechter Lohn, sichere Arbeitsbedingungen, Anspruch auf bezahlte freie Tage im Krankheitsfall, um nur einzige zu nennen. Der Schutz der Rechte von Landwirten und Landarbeitern sind wesentliche Bestandteile der Agrarökologie, die häufig nur als ein Landwirtschaftsmodell beschrieben wird. Für den Übergang zu einem wirklich nachhaltigen Lebensmittelsystem in der EU müssen sowohl die soziale Konditionalität als auch die Agrarökologie in die Ernährungspolitik der EU aufgenommen werden, und zwar angefangen mit der GAP, die derzeit in den europäischen Institutionen zur Diskussion steht.
Grund für die soziale Konditionalität
Millionen Menschen sind in der europäischen Landwirtschaft beschäftigt, vorwiegend als Saisonarbeiter: Obwohl sie von den europäischen Institutionen und Regierungen als „systemrelevant“ definiert wurden, als die Covid-19-Pandemie im vergangenen Frühjahr ausbrach, ist ihre Erfahrung häufig von unmenschlichen Lebensbedingungen, elenden Löhnen, überlangen Arbeitszeiten, Schwarzarbeit und Unterkünften unterhalb aller Standards geprägt. Die Beschäftigten waren noch nie in der GAP vertreten, die rund ein Drittel des EU-Haushalts ausmacht. Während die Förderungen der GAP heute immer mehr unter der Bedingung vergeben werden, dass die Landwirte bestimmte Voraussetzungen bei Umweltschutz und Tierwohl einhalten (die allerdings noch ernsthaft verbessert und verstärkt werden müssen), spielt die Wahrung der Menschen- und Arbeitsrechte bei der Vergabe der Direktzahlungen absolut keine Rolle. Aus diesem Grunde ist die GAP, was auch nicht überrascht, bisher absolut gescheitert, wenn man an eine Verbesserung der Bedingungen der Landarbeiter denkt.
Im Oktober 2020 hat das Europäische Parlament Position zur Gemeinsamen Agrarpolitik bezogen. Obwohl die Ergebnisse vom Umweltstandpunkt wirklich enttäuschend sind, hat das Parlament dafür gestimmt, die Direktzahlungen der GAP von bestimmten Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen abhängig zu machen, die im Sinne der einschlägigen Kollektivverträge, des nationalen und des EU-Rechts sowie der ILO-Übereinkommen anwendbar sind (Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation). Das bedeutet im Wesentlichen, dass die Landwirte die Förderung der GAP nur erhalten können, wenn sie die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen für Landarbeiter beachten, die auf nationaler und internationaler Ebene festgelegt sind: Setzt der Arbeitgeber diese Grundvorschriften nicht um, sollte er keinen Anspruch auf Förderung haben. Allerdings ist das Ergebnis derzeit gefährdet, denn mehrere EU-Mitgliedstaaten wollen dieses Element aus den Bedingungen für die Direktzahlungen der GAP streichen; die Begründung lautet, dass es die Situation für die Landwirte komplizierter machen würde, weil zu viel „Bürokratie“ eingeführt würde.
Agrarökologie und die soziale Dimension der Landwirtschaft
In einer jüngeren einstimmigen Stellungnahme des Europäischen Ausschusses der Regionen (AdR) zur Agrarökologie wird die Verbindung zwischen Agrarökologie und der sozialen Komponente der Landarbeit deutlich gemacht und klar gefordert, die Einhaltung der Rechte der Landarbeiter, also die soziale Konditionalität, als Voraussetzung für die GAP-Förderung aufzunehmen. Tatsächlich empfiehlt der AdR in seiner Stellungnahme, abgesehen von landwirtschaftlichen Aspekten, verschiedene andere wichtige Maßnahmen, um die Agrarökologie zu fördern, die der Sichtweise von Slow Food auf die Agrarökologie entsprechen. Er bemerkt zum Beispiel, dass „die Lebensqualität der Viehzüchter und das Wohlergehen der Tiere Hand in Hand gehen und einen anderen Ansatz für die Tierhaltung erfordern“, fordert, die „partizipative Forschung zwischen Forschern und Landwirten“ zu unterstützen, und führt einen neuen Ansatz für „nachhaltige Lebensmittelsysteme“ ein, der die Notwendigkeit erkennt, die Ernährungsgewohnheiten der Bürger durch ein günstiges Umfeld umzustellen. Er empfiehlt auch, „von einer Logik der extraktiven Landwirtschaft zu einer Kreislauflogik“ überzugehen, wobei genetisch verändertes Saatgut überzeugt anzuschließen ist.
Umsetzung der Agrarökologie in die EU-Politik
Agrarökologie wird als die Wissenschaft definiert, die ökologische Begriffe und Grundsätze auf die Planung und Führung einer nachhaltigen Landwirtschaft und nachhaltiger Lebensmittelsysteme anwendet. Nach Ansicht von Slow Food und einer steigenden Zahl von anderen Organisationen und Institutionen ist die Agrarökologie der entscheidende Ansatz, um nachhaltige Ernährungssysteme aufzubauen, welche die Umwelt, das Tierwohl und die Menschen achten, die die Lebensmittel erzeugen und verbrauchen.
Das Problem ist jetzt, die Agrarökologie in die Lebensmittel- und Agrarpolitik der EU zu übersetzen – nicht einfach, indem die Anwendung einiger agrarökologischer Methoden wie der biologischen Landwirtschaft ermutigt wird, sondern indem ein agrarökologischer Ansatz bei der Planung der Lebensmittelpolitik zugrunde gelegt und die Einhaltung der agrarökologischen Grundsätze garantiert wird.
Das Strategiepapier zur Agrarökologie, das im Januar von Mitgliedern der Food Policy Coalition, darunter Slow Food, veröffentlicht wurde, sieht in den „10 Elementen der Agrarökologie“ und den „13 agrarökologischen Grundsätzen“ der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) einen wirksamen Rahmen, um geeignete Instrumente und Ziele für die EU-Politik zur Eingliederung der Agrarökologie zu entwickeln. Im Mittelpunkt dieser Elemente und Grundsätze steht die soziale Dimension der landwirtschaftlichen Methoden. Eins der 10 Elemente der FAO lautet zum Beispiel „Menschliche und soziale Werte“ wie Würde, Gleichberechtigung, Inklusion und Gerechtigkeit: Diese gelten als wesentlich, um die nachhaltige Landwirtschaft in breitem Rahmen umzusetzen. Das Strategiepapier bestätigt, dass „Agrarökologie auch den Wandel der sozialen Beziehungen betrifft, die Einbeziehung der Landwirte in die Verantwortung, die Förderung von Mehrwert auf lokaler Ebene und kurzen Versorgungsketten, die Verbraucher und Erzeuger zusammenbringen“.
„Agrarökologie ist nicht eins der Werkzeuge aus einem vorhandenen Werkzeugkasten, sondern ein völlig neuer Werkzeugkasten. Die EU muss die Agrarökologie als entscheidenden Weg anerkennen, um ihre Lebensmittel- und Landwirtschaftssysteme zu ändern. Dabei muss das gesamte Potential der Agrarökologie mit dem oben vorgeschlagenen Rahmen einbezogen und dieses Engagement in alle zukünftigen politischen Maßnahmen im Lebensmittelbereich übersetzt werden.“
Allerdings kann man keine agrarökologischen und nachhaltigen Lebensmittelsysteme aufbauen, wenn dabei die soziale Dimension übersehen wird: Aus diesem Grunde wird Slow Food weiter dafür kämpfen, dass die Beachtung der sozialen Rechte zu einer Grundbedingung für die GAP-Förderung wird und dass die EU-Politik zu Lebensmitteln und Landwirtschaft die Umwelt-, Gesundheits- und sozialen Probleme gemeinsam angeht.
Im April 2020 hat Slow Food die gemeinsame alarmierende Erklärung über die dramatischen Arbeitsbedingungen der Land- und Lebensmittelarbeiter in der Covid-19-Pandemie unterzeichnet.
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