EU oder UN – Ohne Agrarökologie keine Biodiversität

12 Jul 2021

Während Slow Food seine weltweite Online-Kampagne zum Schutz und zur Wiederherstellung der Biodiversität startet, zeigt die Europäische Union weiterhin keine Kohärenz bei ihrer Biodiversitäts- und Ernährungspolitik. Im Vorfeld des Biodiversitätsgipfels der Vereinten Nationen muss bei den Diskussionen zu Umweltthemen die zentrale Rolle klar gestellt werden, die Lebensmittel und Landwirtschaft im Kampf gegen den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt spielen.

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Vergangenen Juni verabschiedete das  EU Parlament seine Position zur „EU-Biodiversitätsstrategie für 2030: „Mehr Raum für die Natur in unserem Leben.” Mit klarer Mehrheit stimmten die Abgeordneten für eine verbindliche Politik und konkrete Ziele, um einen Wandel in der EU-Landwirtschaft einzuleiten. Dazu gehören als Beitrag zum Schutz und Erhalt der Biodiversität Maßnahmen zur Reduzierung des Einsatzes und der Risiken von Pestiziden und zum Schutz des Bodens. Das Parlament fordert auch bessere Unterstützung für in kleinem Maßstab arbeitende Lebensmittelerzeuger. So soll ein Übergang zu den Modellen der Agrarbiodiversität und Agrarökologie gewährleistet werden, die einen immer höheren Stellenwert in den politischen Debatten der EU einnehmen. Außerdem fordert das EU-Parlament von der EU, auf die Worte Taten folgen zu lassen und in den verschiedenen Mitgliedsstaaten Maßnahmen umzusetzen, um den Verlust von Biodiversität einzugrenzen. Ein weiteres positives Element ist die Aussage, dass „indigenes und lokales Know-How grundlegend für einen wirkungsvollen Schutz der Biodiversität ist.“ Positiv auch die Forderung, die Fischbestände wiederaufzubauen, das Vorsorgeprinzip einzuhalten und den Grundsatz zu befolgen „Wer verursacht, zahlt.” Positiv zu bewerten auch die klare Stellungnahme gegen die Verwendung neuer Gentechnik und gegen die Erneuerung der Zulassung von Glyphosat, dem meistverwendeten  Pflanzenschutzmittel der Welt. Damit nicht genug: Es wurde sogar die dringende Notwendigkeit für ein EU-Biodiversitätsgesetz konstatiert, das den Schutz der biologischen Vielfalt in der EU durch die Festlegung eines Governance-Rahmens mit verbindlichen Zielen grundlegend verbessern könnte.

„Wir fordern ein EU-Biodiversitätsgesetz ähnlich des EU-Klimagesetzes, das den Governance-Rahmen zum Schutz der biologischen Vielfalt bis 2050 festlegt und verbindliche Ziele für 2030 aufstellt. Ich bin froh, dass wir uns den Hauptzielen des Vorschlags der Europäischen Kommission angeschlossen haben, einen EU-Plan zur Wiederherstellung der Natur aufzustellen. Damit sollen mindestens 30% der Land- und Meeresfläche in der EU geschützt werden“, kommentierte der spanische EU-Parlamentarier César Luena von der Fraktion der Sozialdemokraten.

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Slow Food begrüßt diese ermutigenden Schritte, um den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten, und erkennt die wichtige Rolle an, die Lebensmittel und Agrobiodiversität beim Schutz der biologischen Vielfalt spielen. Die europäischen Ökosysteme, die Grundlage für unsere Nahrungsmittel, frische Luft, Wasserrückhalt und Klimaregulierung sind, stehen durch die intensive Nutzung der Land- und Meeresressourcen, den Klimawandel, die Verschmutzung und die übermäßige Ausbeutung unter ständigem Druck. Diese Bedrohungen haben besorgniserregende Folgen. Laut der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (International Union for Conservation of Nature, IUCN) sind in Europa  25% der Amphibien, 13% der Reptilien, 15% der europäischen Säugetiere und 13% der europäischen Vogelarten vom Aussterben bedroht. Insgesamt 1.677 von 15.060 bewerteten europäischen Spezies sind vom Aussterben bedroht.

Im Mai 2020 veröffentlichte die Europäische Kommission den EU-Grünen Deal mit der EU-Biodiversitätsstrategie bis 2030 und der Strategie „Vom Hof auf den Tisch.“ Mit diesen Strategien und den darin gesetzten ehrgeizigen Zielen möchte die EU ihre weltweite Führungsrolle im Bereich nachhaltiger Lebensmittelsysteme und bei der Bekämpfung der globalen Biodiversitätskrise behaupten. Würden diese Ziele tatsächlich erreicht, so wäre das sicherlich ein großer Beitrag zur Wiederherstellung der Biodiversität:

  • Reduzierung der Verwendung und des Risikos durch gefährliche Pestizide um 50% bis 2030.
  • Erhöhung des Anteils der landwirtschaftlichen Nutzfläche in der EU mit ökologischem Landbau auf 25% bis 2030.
  • Reduzierung der Verwendung von Düngemitteln um 20% bis 2030.
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©Marta Messa,

Da die Strategien jedoch nicht verbindlich sind, hängt ihr Erfolg von der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) und ihrer Umsetzung durch die Nationalen Strategiepläne in den Mitgliedsstaaten ab. Obwohl das Parlament konstatierte, dass die GAP es bisher nicht geschafft habe, „eine klare Botschaft an die Bauern zu senden, ihre Praktiken zu ändern”, ist es unwahrscheinlich, dass die neue GAP, die 2023 in Kraft tritt, tatsächlich biodiversitätsfreundliche und agrarökologische Ansätze fördert. Vergangenen Monat haben die wichtigsten EU-Institutionen ein Abkommen zur neuen GAP verabschiedet, das in krassem Widerspruch zu den Zielen des Grünen Deals der EU steht (lesen Sie hier unsere Analyse). Dieses Ergebnis gibt großen Anlass zur Sorge, da es die vielen Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen Lebensmittelsystemen und Klimawandel ganz offen leugnet.

Wie Elena Višnar Malinovská, Bereichsleiterin der EU-Generaldirektion Klima bei der Klimakonferenz von Slow Food vergangene Woche betonte:

„Weltweit sind Ernährungssysteme für 60 % des territorialen Biodiversitätsverlustes, etwa 24 % der Treibhausgasemissionen, etwa 1/3 der Bodendegradation und die vollständige Ausbeutung von mindestens 90 % der im Handel befindlichen Fischpopulationen verantwortlich. Wir müssen die industrielle Landwirtschaft beenden, weniger Rinder züchten, den ökologischen Landbau fördern und uns um den Wasserrückhalt in der Landschaft kümmern.” Wir können den Klimawandel und den Verlust der biologischen Vielfalt nicht bewältigen, wenn wir keinen eindeutigen Übergang zu nachhaltigen und agrarökologischen Lebensmittelsystemen  schaffen.

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Um gute, saubere und faire Nahrungsmittel für alle zu garantieren, müssen wir bei der Biodiversität ansetzen. Es ist dringend nötig, unser Produktionsmodell umzustellen, das  nach wie vor soziale Probleme und Umweltkatastrophen verursacht und die Grundvoraussetzungen für die Ernährungssicherheit gegenwärtiger und zukünftiger Generationen untergräbt. Seit nunmehr über 20 Jahren setzt sich Slow Food für den Schutz der Biodiversität ein, der Grundlage für die Landwirtschaft und die Lebensmittelproduktion: Pflanzensorten, Tierarten, nützliche Insekten, Mikroorganismen, Ökosysteme, Know-How und Kulturen.

„Klimawandel und Nahrungsmittel stehen in engem Zusammenhang. Die Art und Weise, wie wir Lebensmittel produzieren, verarbeiten, verteilen und konsumieren spielt eine Schlüsselrolle – sie kann zum Klimawandel beitragen oder bei seiner Bekämpfung helfen. Slow Food ist eine globale Bewegung mit Tausenden Gemeinschaften auf der ganzen Welt, die konkrete Lösungen für nachhaltige Lebensmittelsysteme in die Tat umsetzen und damit zur Lösung vieler Krisen beitragen, die uns als Individuen, als Gemeinschaften und als Gesellschaft betreffen”, erklärte Marta Messa, Leiterin von Slow Food Europa während der Klimainitiative von Slow Food.

Slow Food ist der festen Überzeugung, dass die Arbeit der EU zum Thema Biodiversität den Erhalt der natürlichen Lebensumgebungen und wildlebenden Spezies mit dem Schutz der landwirtschaftlichen Biodiversität kombinieren muss. Da die Natur so eng mit den Bereichen Umwelt, Landwirtschaft, Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft verflochten ist, muss die Reaktion der EU auf den Verlust der biologischen Vielfalt sektorübergreifend sein und auf mehr Kohärenz und bessere Koordination zwischen allen EU-Mitgliedstaaten setzen.

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Darüber hinaus fordert Slow Food die EU im Hinblick auf den nächsten UN-Biodiversitätsgipfel (11.-24. Oktober) nachdrücklich dazu auf, sich ihre weltweit führenden Umweltschutzgesetze zunutze zu machen. So kann sie den Weg für eine globale Zusammenarbeit und kollektive Maßnahmen zur Wiederherstellung und Erhaltung der biologischen Vielfalt auf der ganzen Welt ebnen.

Slow Food wird sich weiterhin aktiv für die Förderung der Agrobiodiversität einsetzen, indem wir unser Know-How im Bereich Lebensmittel und Lebensmittelherstellung vertiefen und verbreiten. Das ermöglicht ein besseres Verständnis dafür, wie wichtig und dringend der Schutz der Biodiversität und die Unterstützung derjenigen ist, die tagtäglich mit ihrer Arbeit zum Erhalt der Biodiversität beitragen.

  • Möchten Sie mehr Informationen über die vielschichtigen Aspekte von Biodiversität erhalten? Lesen Sie das aktuelle Positionspapier von  Slow Food  „Wenn die Biodiversität lebendig ist, ist es auch die Erde”: Vollständige VersionKurzversion
  • Wenn Sie mehr über die Strategien „Vom Hof auf den Tisch” und die Biodiversitätsstrategie erfahren möchten, schauen Sie mal in die Analyse von Slow Food Europa.
  • Wenn Sie den 24h-Marathon der Klimainitiative von Slow Food verpasst haben, finden Sie hier die Aufzeichnungen!

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