Auf zu einer neuen Nahrungsmittelrevolution
13 Nov. 2018

Schicksalsergebene Esser sehen den Klimawandel gerne als ein im Grunde technisches Problem. Wie am Fuße eines unbezwingbaren Berges denken sie: „Was können wir von hier unten schon ausrichten? Wir können nur die Daumen drücken.” Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein!
Die Kampagne #FoodforChange und Indaco, ein Spin-Off der italienischen Universität von Siena, haben einen interessanten Vergleich angestellt: Zwischen einer ungesunden Ernährung auf Grundlage von verarbeiteten Lebensmitteln und tierischen Proteinen aus industriellen Mastbetrieben auf der einen Seite, und einer gesunden Ernährung basierend auf Produkten der Slow Food Presidi und anderen nachhaltigen Produktionsketten auf der anderen Seite. Der Vergleich zeigt, dass eine gesunde und nachhaltige Ernährung erhebliche positive Auswirkungen auf die Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft hat.
Hier sind vier Beispiele dafür: Der CO2-Fußabdruck der Heumilch des österreichischen Erzeugers Martin Unterweger ist um 31% geringer als der Fußabdruck von industriell produzierter Milch. Gründe dafür sind das Dauergrünland des Hofs, die Fütterung der Tiere ohne Silage, Verwendung von Mist als Dünger, Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien und eine kurze Versorgungskette. Durch den Kauf von Heumilch kann man 190 Tonnen CO2pro Jahr einsparen, genauso viel wie ein Auto auf einer Strecke von 46.000 km produziert! Livio Garbaccio, der auf seinem Hof in Varallo, im italienischen Piemont, aus der Milch von 24 Kühen Käse produziert, verursacht 83% weniger CO2-Emissionen als ein vergleichbarer industrieller Milchprodukte-Betrieb. Die eingesparten Emissionen entsprechen denen, die ein Auto auf einer Strecke von 154.000 km erzeugen würde! In Dänemark baut Verner Andersen in seinem Obstgarten mit alten Sorten jährlich 76 Tonnen biodynamischer Äpfel an. Dabei produziert er 81% weniger CO2 als es beim intensiven Anbau der gleichen Menge Äpfel der Fall wäre. Betrachtet man zu guter Letzt die Herstellung des Vastedda-Käses aus der Milch der Schafe des italienischen Valle del Belice auf dem sizilianischen Bauernhof von Liborio Cucchiara in Belice, so erzeugt er 60% weniger CO2 als eine industrielle Käseherstellung.
Diese Erfolgsgeschichten in punkto Erhalt der biologischen Vielfalt haben verschiedene grundlegende Methoden gemeinsam: Die Arbeit mit hochproduktiven lokalen Tierrassen, handwerkliche Herstellungsverfahren, reduzierter Einsatz von Ressourcen, Verwendung von Stroh zur Bindung von Stickstoff, Verwendung von Regenwasser, Vermeidung von Soja, Bestäubung durch Bienen, Verwendung von Hackschnitzel zur Wassererhitzung, manuelle Ernte, sowie Direktverkauf in recycelbaren Verpackungen oder Kartons. Aber das ist noch nicht alles: Diese nachhaltigen Verfahren der Presidi- und vergleichbarer Produkte sind auch sehr gut für die Gesundheit. Wenn wir mehr Pflanzen essen würden, mehr Hülsenfrüchte und Wurzeln statt Getreide, mehr Obst statt Kuchen, weniger Fett, Zucker und Zusatzstoffe zu uns nehmen würden, dann könnten wir jährlich pro Person genau so viel CO2 einsparen, wie ein Auto auf einer Strecke von über 3.000 km produziert.
Diese Zahlen zeigen wissenschaftlich fundiert, dass wir keinen Grund haben, einen Wandel in der Landwirtschaft weiter aufzuschieben. Wann werden wir endlich europäische Bürger sehen, die die EU-Kommission, die Staaten oder die Institutionen zur Rechenschaft ziehen, weil sie gravierende Mängel in punkto Gesundheit und Lebensmittelsicherheit für die Bürger in Kauf nehmen?
Diese Studie zeigt klar und deutlich, dass die umweltfreundlichsten Produkte auch gut für unsere Gesundheit sind. Wenn die Mehrheit der Bevölkerung Produkte konsumieren würde, die geringere Auswirkungen auf die Umwelt haben, könnte das einen großen Wandel bewirken. Jetzt steht fest: Wenn wir mehr auf die sensorische und ökologische Qualität unseres Essens achten, kann das einen erheblichen Betrag zum Kampf gegen den Klimawandel leisten. Wir wissen bereits, dass der Fleischkonsum gesenkt muss, weil die Weltbevölkerung zunimmt. Der durchschnittliche wöchentliche Fleischkonsum in Europa beträgt aktuell 1,55 kg pro Person. Das ist dreimal so viel wie von den Ernährungswissenschaftlern empfohlen. Forscher berichten verstärkt, dass die gesundheitsschädlichsten Produkte auf lange Sicht negative Auswirkungen haben, selbst wenn sie nur gelegentlich konsumiert werden. Einmal pro Woche eine Ausnahme der Regel zu machen, ist bereits zu viel.
Essen ist mehr denn je ein politisches Thema. Wir müssen die lokalen Gemeinschaften ermutigen, auf regionaler Ebene nachhaltige Lebensmittelsysteme aufzubauen. Die Arbeit des Rechtsanwaltes François Collart-Dutilleul aus Nantes zur lokalen Ernährungsdemokratie zeigt Lösungsansätze, die zwar radikal, aber auch einfach umzusetzen sind: Eltern, Studenten, Patienten, ältere Menschen und Angestellte müssen in der Lage sein, in den Mensen und Kantinen von Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Altersheimen und an den Arbeitsplätzen die Ernährungsentscheidungen zu beeinflussen. In den Dörfern und Vororten mit geringerem Leistungsangebot müssen die Bauernmärkte ausgebaut werden. Wie es bereits in Saint-Denis und einigen exemplarischen Gemeinschaften geschehen ist, müssen die Bürgermeister das Land schützen und die Schulung von Marktgärtnern organisieren. Lokale Behörden müssen Cateringfirmen Anreize bieten, gesunde Produkte zu vertreiben.
Die von Slow Food durchgeführte und von der Europäischen Union finanzierte Studie ist ein wichtiger Meilenstein in der Debatte um die Zukunft der Ernährung.
Sie belegt, wie wichtig der Einsatz der Bürger für nachhaltige Lebensmittel ist. Im Zuge der letzten Nahrungsmittelrevolution, bei der sich Ende des 18. Jahrhunderts die Restaurants in Frankreich etablierten und die den brillanten Gastrosophen Brillat-Savarin zu seinen Theorien über die Gastronomie als ganzheitliche Wissenschaft inspirierte, ermöglichte es die Transformation des Nahrungsmittelsystems in den reichen Ländern, die Hungersnöte überwiegend zu beseitigen. Heute müssen wir dem Hungerproblem im Globalen Süden ein Ende bereiten, indem wir im Norden unsere Art der Ernährung ändern. Der Klimawandel stellt eine Chance dar, diese neue Revolution einzuleiten. Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, auf globaler Ebene Solidarität zu beweisen.
*Präsident von Slow Food
**Forscher am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) und an der Universität Sorbonne, Autor des Atlas de l’alimentation(CNRS Editions)
Slow Food arbeitet mit Erzeugern zusammen, um die Auswirkung der Lebensmittelherstellung auf die Umwelt zu messen und zu reduzieren. Erfahren Sie mehr über die Methoden zur Bewertung der Auswirkungen
Veröffentlicht in Liberation, 9. November 2018
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